Pierre Oberson, Sie haben den Entwurf des Stromabkommens im Rahmen der Vernehmlassung analysiert. Was halten Sie davon? Es kommt darauf an, ob man den Entwurf für das Schweizer Energiesystem oder für einen Netzbetreiber (VNB) wie Groupe E analysiert. Insgesamt betrachtet, braucht die Schweiz dieses Abkommen. Was sind die Vorteile dieses Abkommens für das Schweizer Energiesystem? Der Hauptvorteil ist die vollständige Einbindung in das europäische Netz. Swissgrid wäre fester Bestandteil jener Instanzen, die die Energieflüsse durch Europa steuern und für die Stabilität der europäischen Übertragungsnetze sorgen. Zudem wäre auch die ElCom vollständig in die europäischen Energieregulierungsbehörden (ACER) eingebunden. Dieses Abkommen ist notwendig für das Schweizer Energiesystem, die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit. Es ermöglicht eine vollständige Integration in das europäische Netz. Können Sie erläutern, warum Netzstabilität wichtig ist? Das Schweizer Netz befindet sich im Herzen Europas. Mit dem Stern von Laufenburg hat die Schweiz gemeinsam mit Deutschland und Frankreich den Grundstein für den Zusammenschluss der Netze gelegt. Derzeit ist Swissgrid stark von unvorhersehbaren Flüssen durch die Schweiz betroffen. In letzter Zeit erlebten wir in Europa jeden Monat ein Blackout: Spanien, Nordmazedonien und Tschechien. Die beispiellose Entwicklung der intermittierenden Energie macht das Management der Netzfrequenz zu einer grossen Herausforderung. Liegt darin auch ein Vorteil für die Versorgungssicherheit? Je stärker die Schweiz in den europäischen Strommarkt integriert ist, desto resilienter und sicherer ist ihre Stromversorgung. Die europäischen Länder müssen 70% ihrer Netzkapazitäten für die Mitgliedstaaten reservieren. Ohne Abkommen gilt die Schweiz als Drittstaat. Mit dem zu schleppenden Ausbau der einheimischen Produktion und dem geplanten Ausstieg aus der Kernkraft werden Energieimporte für die Versorgungssicherheit des Landes noch wichtiger. Mit diesem Abkommen und dem vollständigen Zugang zum europäischen Netz kann die Schweiz auch ihren Bedarf an Reservekraftwerken reduzieren. Worin bestehen unerwünschte Nebenwirkungen? Die Integration in den europäischen Energiemarkt setzt zwangsläufig eine vollständige Marktöffnung der Schweiz voraus. Das bedeutet, dass alle Endverbraucherinnen und -verbraucher ihren Stromanbieter frei wählen können. Die Schweiz hat sich aus innenpolitischen Gründen dafür entschieden, eine regulierte Grundversorgung für Kundinnen und Kunden mit einem Verbrauch von weniger als 20 MWh pro Jahr aufrechtzuerhalten. Kundinnen und Kunden werden also kurzfristig vom liberalisierten Markt in die Grundversorgung und umgekehrt wechseln können. Die etablierten Anbieter werden das Risiko von Schwankungen bei den Liefervolumen managen müssen. Werden die Liefervolumen weniger vorhersehbar sein? Ja. Und um es noch komplizierter zu machen, hält der Vorentwurf des Bundesrates an den Fortschritten des Stromgesetzes fest: Die Versorger müssen über eine Versorgungsstrategie verfügen, die die Preisschwankungen begrenzt. Die Versorgungsstrategie muss also mittelfristig ausgerichtet sein, was voraussetzt, dass die Liefervolumen im Voraus bekannt sind. Das ist paradox. Wie schätzen Sie die Auswirkungen auf die Preise ein? Der Strompreis setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen: Energie, Netz und Abgaben. Die Liberalisierung könnte den Preis für die Energiekomponente senken. Die Netzkomponente wird durch das Abkommen nicht berührt. Im Rahmen der Energiewende werden jedoch Kosten für den Netzumbau entstehen. Welche Auswirkungen sind für die Solarenergie zu erwarten? Der Bundesrat hält an der Verpflichtung für die VNB fest, Solarstrom abzunehmen, der nur in die Grundversorgung integriert werden kann. Dies beinhaltet die Gefahr, dass deren Tarife nicht wettbewerbsfähig sind. Um die Solarenergie wirklich zu fördern, wäre es unserer Meinung nach besser, auf Investitionsprämien zu setzen, auch wenn dies etwas teurer wäre. Wie sieht es mit der Entflechtung der Tätigkeiten (Unbundling) aus? Für die grossen VNB besteht eine neue Pflicht: Sie müssen das Stromnetz rechtlich von ihren anderen Tätigkeiten trennen, beispielsweise durch die Gründung einer Groupe E Netze AG. Es ist schwer vorstellbar, welchen Mehrwert diese zusätzliche Belastung Kundinnen und Kunden im Vergleich zur heutigen Situation bringen würde. Wie positioniert sich Groupe E? Groupe E spricht sich klar dafür aus, da dieses Abkommen für das Schweizer Energiesystem, die Netzstabilität und die Versorgungssicherheit notwendig ist. Es bringt zwar gewisse Auflagen mit sich, wie die vollständige Öffnung des Strommarktes und die Entflechtung der Tätigkeiten (Unbundling), ermöglicht aber auch eine vollständige Integration in das europäische Netz und eine Stärkung der Versorgungssicherheit. Die Bilateralen III Die Schweiz verfolgt seit 25 Jahren einen bilateralen Ansatz mit der Europäischen Union (EU). Dies geschieht durch die Aushandlung massgeschneiderter Abkommen. Dieser Rahmen hat zum Wohlstand des Landes beigetragen. Im Juni hat der Bundesrat die Texte der Bilateralen III, das Ergebnis von 19 Jahre andauernden Verhandlungen, gutgeheissen. Das Paket umfasst die Aktualisierung von fünf bestehenden und drei neuen Abkommen, darunter eines über Elektrizität. Nach der Konsultation der Interessengruppen wird der Bundesrat Anfang 2026 die Schlussbotschaft an die eidgenössischen Räte weiterleiten. Eine Volksabstimmung könnte bereits 2027 stattfinden, wenn das Volksreferendum von den Räten angenommen wird. Der Bundesrat hat sich für ein fakultatives Referendum über die mit der Europäischen Union (EU) ausgehandelten Abkommen entschieden. Das bedeutet, dass die Schweizer Bevölkerung die Möglichkeit haben wird, über diese Abkommen abzustimmen; dies ist jedoch nicht obligatorisch und bleibt dem Entscheid des Parlaments vorbehalten. Wenn das Parlament dies beschliesst, kann die Schweizer Bevölkerung über das Abkommen abstimmen. |